Annabel hat gehört, dass es in alten Häusern oft spuken soll. Viele Leute sagen ihr das, weil sie heute ihre erste Nacht in ihrem neuen Haus verbringen wird und das Haus sehr sehr alt ist. Es hat ein ganz spitzes Dach und im Garten stehen riesige Bäume, die bestimmt noch älter sind als das Haus selbst. Das Gras ist hoch und wild und überall wachsen die schönsten Blumen. Annabel hat sich sofort in das Haus verliebt und endlich kann sie unter dem spitzen Dach schlafen.
Als es dunkel wird, pfeift der Wind um das Dach und die alten Holzbalken knarzen laut. Annabel fürchtet sich kein bisschen, sie liebt das alte Haus. Sie stellt sich vor, dass sie eine Hexe ist und unten in der Küche über Nacht ihr Zaubertrank brodelt. Eine Hexe muss sich vor gar nichts fürchten. Auch nicht vor den Raben, die vor den Fenstern krächzen. Annabel zieht sich ihre dicke Decke bis unter die Nasenspitze hoch. Es ist ein bisschen kalt geworden.
Jemand räuspert sich leise neben Annabel. „Äh… hallo“, sagt eine dünne, hohe Stimme.
Annabel fährt zusammen. Keine Angst haben, keine Angst haben!
„Wer ist da?“, fragt Annabel und versteckt sich unter der Decke.
„Ich bin Lola“, dringt die Stimme in Annabels Versteck, „ich bin ein Gespenst.“
„Ein Gespenst? Ein echtes?“, Annabel ist neugierig geworden und wagt einen Blick aus der sicheren Decke. Direkt vor ihrem Bett schwebt wahrhaftig ein kleines Gespenst und leuchtet schwach in dem dunklen Zimmer. Es ist ganz und gar weiß und schaut Annabel aus großen Augen an. Besonders gruselig sieht das kleine Gespenst nicht aus, findet Annabel. Es ist nur halb so groß wie sie und sieht ein bisschen unsicher aus.
„Äh… ja… ich bin ein echtes Gespenst… äh… BUH!“ Lola das kleine Gespenst wackelt mit den Armen und versucht, besonders gruselig zu wirken.
„Ich glaube, du hättest als erstes ‚BUH‘ machen müssen, um mich zu erschrecken“, sagt Annabel und setzt sich im Bett auf. Jetzt braucht sie die Decke nicht mehr zum Schutz.
„Oh ja“, sagt Lola, „das wär besser gewesen. Tut mir leid, ich mache das hier zum ersten Mal!“
„Du bist ein Gespenst und hast noch nie irgendwo gespukt?“, fragt Annabel ungläubig. „Ich dachte immer, Gespenster machen gar nichts anderes.“
„Ich war nicht so gut in der Geisterschule“, sagt Lola und wird ein bisschen rot. Das sieht komisch aus, weil Lola ja ein kleines Gespenst ist und Annabel muss kichern.
„Oh nein“, sagt Lola, „du sollst dich gruseln und nicht lachen!“
„Tut mir leid“, sagt Annabel, „ich bin auch zum ersten Mal hier im Haus. Überall stehen noch meine Umzugskartons, das ist auch irgendwie gruselig.“
„Ich dachte eigentlich, ein Geist sein reicht, damit du dich gruselst“, gibt Lola zu.
„Soll ich dir helfen?“, bietet Annabel an. „Wir können zusammen überlegen, wie du gruseliger sein kannst!“
Lola fliegt vor Freude ein Stückchen in die Luft. „Das wäre ja super!“
Annabel steigt aus dem Bett und zieht sich ihre weichen Hausschuhe an. „Okay, also als erstes darfst du dich nicht ankündigen und vorstellen, weil dann erschrickt man ja gar nicht.“
„Du hast dich aber trotzdem erschrocken“, sagt Lola.
„Das zählt nicht“, sagt Annabel.
„Na gut“, sagt Lola. „Wäre es gruselig gewesen, wenn ich so gemacht hätte?“ Das kleine Gespenst schwebt zu den Umzugskartons in der Ecke und schiebt sie ein bisschen über den Boden. Dann macht sie: „Uuuuuuuuuuuh!“
Annabel klatscht in die Hände. „Das wäre sehr gruselig gewesen“, gibt sie zu. „Vielleicht kannst du auch ein bisschen an den Fenstern rütteln oder mir die Bettdecke wegziehen.“
„Das mit der Bettdecke wäre aber sehr gemein, du sollst dich ja nur gruseln“, sagt Lola.
„Das stimmt“, überlegt Annabel, „dann lieber nur das Fenster. Und immer diese Geräusche machen, die sind super!“
Lola probiert aus, an den Fenstern zu wackeln und macht wieder: „Uuuuuuuuuuh!“
Annabel nickt: „Sehr gruselig. Wenn du das von Anfang an gemacht hättest, wärst du so gruselig gewesen, dass ich weggelaufen wäre.“ Annabel und Lola lachen.
„Danke für deine Hilfe“, sagt Lola, „dann komme ich morgen Nacht wieder vorbei und probiere es nochmal.“
„Ich verspreche auch, mich sehr zu gruseln“, sagt Annabel, „aber erstmal muss ich die ganzen Umzugskartons auspacken.“
„Dabei kann ich dir ja helfen, weil du mir mit dem Spuken geholfen hast“, bietet Lola an.
„Eine gute Idee“, freut sich Annabel, „dann machen wir das morgen Nacht, ich besorge auch ein paar Kekse.“
Dann verschwindet Lola durch die Wand, wie ein echtes Gespenst, und Annabel legt sich zurück ins Bett. Der Wind pfeift immer noch durch das Dach und die Raben krächzen extra laut, aber Annabel schläft seelenruhig und lächelnd ein.